Zwischen Notfällen und Übernutzung: Warum der Rettungsdienst von der Fischerei lernen kann

Der Rettungsdienst in Deutschland steht vor einer gewaltigen Herausforderung: Die Zahl der Einsätze steigt seit Jahren kontinuierlich an. Dies bringt das System an seine Grenzen –- von überlastetem Personal bis zu einer eingeschränkten Verfügbarkeit von Rettungsmitteln. Doch warum ist das so, und welche strukturellen Ursachen liegen diesem Trend zugrunde? Interessanterweise lassen sich diese Entwicklungen mit einem Phänomen vergleichen, das aus der Systemdynamik bekannt ist: der „Tragik der Allmende“.
Der Rettungsdienst als Allgemeingut
Der Rettungsdienst ist ein klassisches Beispiel für ein Allgemeingut. Seine Leistungen – etwa die Notrufnummer 112, der Transport ins Krankenhaus oder die schnelle medizinische Versorgung – stehen allen zur Verfügung. Diese uneingeschränkte Verfügbarkeit ist essenziell, um Menschen in Notlagen schnell zu helfen. Gleichzeitig liegt hier eine zentrale Herausforderung: Es gibt kaum Einschränkungen oder Hürden für die Nutzung.
In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Bevölkerung systematisch darauf sensibilisiert, im Zweifelsfall den Notruf 112 zu wählen. Dies hat eine hohe Sicherheit geschaffen, denn ein leichter Zugang und eine gute Verfügbarkeit von Leistungen des Rettungsdienstes sind wesentliche Merkmale eines funktionierenden Gefahrenabwehrsystems. Hierzu zählt auch, dass im Zweifel eher höherwertige Ressourcen genutzt werden, als einen Notruf mit nicht geeigneten Ressourcen oder gar nicht zu bedienen. Selbstverständlich spielen an dieser Stelle die Möglichkeiten des Disponenten, Art und Situation eines Notrufs aufzuklären, eine große Rolle. Gleichzeitig kann dies jedoch dazu führen, dass Rettungsdienstressourcen auch dann in Anspruch genommen werden, wenn Alternativen vorhanden wären.
Besonders problematisch wird dies, wenn andere Wege der medizinischen Versorgung wegfallen. In einer Situation, in der die ambulante Gesundheitsversorgung immer weiter ausgedünnt wird, verbleibt der Rettungsdienst als letzte Instanz für viele Menschen, die medizinische Hilfe benötigen.
Die Tragik der Allmende
Das Auseinanderlaufen von Zielen aufgrund des Strebens einzelner Akteure nach maximalem persönlichen Nutzen ohne adäquate Berücksichtigung des Nutzens für die Allgemeinheit wird in der Systemdynamik als „Tragik der Allmende“ oder Allmendenproblematik bezeichnet. Eine Allmendenproblematik entsteht immer dann, wenn der Vorteil jedes einzelnen Nutzers den anteiligen Nachteil eben dieses Einzelnutzers überwiegt. Dabei können die kumulierten Nachteile für alle Nutzer den kumulierten Vorteil für alle Nutzer übersteigen, und so die Überlebensfähigkeit des Systems als Ganzes gefährden. Allerdings muss nicht zwangsläufig egoistisches Handeln die Ursache sein, es ist auch möglich, dass es für den Einzelnen schlicht nicht möglich ist, das gesamte System zu überblicken.
Die „Tragik der Allmende“ beschreibt folglich ein Problem, das auftritt, wenn ein Allgemeingut frei verfügbar ist: Weil es keinen individuellen Anreiz gibt, das Gut nachhaltig zu nutzen, wird es überbeansprucht – bis das System zusammenzubrechen droht. Klassische Beispiele sind die Übernutzung natürlicher Trinkwasservorkommen oder die Hochseefischerei.
Auch die Fische in den Weltmeeren sind ein Allgemeingut. Die Maximierung des individuellen Nutzens einzelner Akteure führt zur Überfischung, weil es für den einzelnen Fischer unmöglich ist, den gesamten Fischbestand zu überblicken. Diese Unübersichtlichkeit ist eine zentrale Ursache der Übernutzung und beruht nicht zwangsläufig auf egoistischem Verhalten des einzelnen Fischers. In der Fischerei zeigt sich dies beispielsweise darin, dass Fischer kurzfristig möglichst viele Fische fangen, ohne die langfristigen Folgen für die Bestände zu bedenken. Dies liegt nicht zwangsläufig an bewusster Profitmaximierung, sondern insbesondere auch daran, dass der einzelne Fischer keinen vollständigen Überblick über die gesamte Population hat. Gleichzeitig kann es jedoch auch Akteure geben, die bewusst aus egoistischen Motiven handeln und ihren eigenen Vorteil über das Gemeinwohl stellen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Rettungsdienst: Er wird zunehmend beansprucht, weil es keine ausreichenden Schutzmechanismen gibt und das System für Einzelne nicht überschaubar ist. In der Folge sind Einsatzkräfte überlastet, Wartezeiten werden länger und Patient:innen in echten Notfällen müssen auf dringend benötigte Hilfe warten.
Ursachen der Überlastung
Ein zentraler Grund für die steigende Beanspruchung des Rettungsdienstes ist die strukturelle Verknappung alternativer Versorgungswege. Immer weniger niedergelassene Ärzte, Schließungen von Krankenhäusern und ein überlastetes Gesundheitswesen führen dazu, dass der Rettungsdienst zunehmend als „Allzwecklösung“ wahrgenommen wird. Für viele Menschen bleibt oft keine andere Wahl, als die 112 zu wählen, wenn medizinische Hilfe benötigt wird.
Andere Wege, um Hilfe zu bekommen, sind und waren niedergelassene Ärzte oder die Notaufnahmen in Krankenhäusern. Da es mittlerweile immer schwieriger wird, zeitnahe einen Arzttermin zu bekommen und da die Dichte der Krankenhäuser auch aufgrund von Reformen in diesem Bereich immer weiter abnimmt, tritt der Rettungsdienst als Alternative in den Vordergrund.
Die Konsequenz: Der Rettungsdienst wird nicht nur in akuten Notfällen genutzt, sondern auch, um Defizite in anderen Bereichen auszugleichen, einschließlich möglicher Erwartungen an einen kostenfreien Transport oder kürzere Wartezeiten in einer Notaufnahme. Dies führt zu einer Fehlallokation von Ressourcen – vergleichbar mit der Überfischung der Weltmeere, bei der kurzfristige Gewinne einzelner Akteure die langfristige Stabilität des gesamten Systems gefährden.
Die entscheidende Erkenntnis ist, dass der individuelle Nutzen nicht mit dem gesellschaftlichen Nutzen übereinstimmt. Einzelne Akteure handeln im Eigeninteresse, wobei dies in den meisten Fällen nicht absichtlich egoistisch geschieht. Vielmehr liegt die Ursache oft in der Unübersichtlichkeit des Systems und dem Fehlen praktikabler Alternativen. In der Summe entsteht ein Problem für die Allgemeinheit: Notfälle können nicht mehr effizient versorgt werden.
Mögliche Lösungsansätze
Die Tragik der Allmende ist kein unaufhaltsames Phänomen. Es gibt bewährte Strategien, um die Belastung des Rettungsdienstes zu steuern und seine Verfügbarkeit langfristig zu sichern:
- Bewusstseinsbildung: Die Bevölkerung muss gezielter darüber informiert werden, wann und wie der Rettungsdienst sinnvoll genutzt werden sollte. Analog zur nachhaltigen Fischereiwirtschaft können Informationskampagnen helfen, das Problembewusstsein zu schärfen.
- Regulierung und Steuerung: Durch gezielte Steuerungsmechanismen könnten unnötige Einsätze reduziert werden. Ähnlich wie Fangquoten in der Fischerei können klare Regeln helfen, das System zu entlasten. Auch finanzielle Anreize, etwa geringe, erstattungsfähige Eigenbeteiligungen, könnten das Verhalten der Nutzer beeinflussen.
- Alternativen schaffen: Der Ausbau alternativer Versorgungsstrukturen, wie Telemedizin, Walk-In-Kliniken oder mobile Gesundheitsdienste, kann den Druck auf den Rettungsdienst mindern. Besonders in Kombination mit den zuvor genannten Steuerungsmechanismen würde dies eine nachhaltige Entlastung des Systems bewirken.
- Ressourcenmanagement: Eine bessere Verteilung und Nutzung vorhandener Ressourcen könnten dazu beitragen, Engpässe zu vermeiden. Beispielsweise könnte durch eine gezieltere Disposition von Rettungsmitteln sichergestellt werden, dass die vorhandenen Kapazitäten optimal genutzt werden. Auch differenziertere Ressourcenangebote, wie der Notfallkrankenwagen (N-KTW), können dazu beitragen, das System zu entlasten.
Fazit
Die „Tragik der Allmende“ zeigt eindrücklich, wie komplex die Herausforderungen unserer Zeit sind. Ob Überfischung der Weltmeere oder Überlastung des Rettungsdienstes: Beide Phänomene machen deutlich, dass frei verfügbare Allgemeingüter nachhaltige Schutzmechanismen benötigen.
Die Lösung liegt in einem bewussten Umgang mit diesen Ressourcen und der Schaffung von Strukturen, die ihre langfristige Verfügbarkeit sichern. Dies umfasst eine Kombination aus Bewusstseinsbildung, Regulierung, dem Ausbau alternativer Versorgungsstrukturen und einem optimalen Ressourcenmanagement. Nur durch eine systemische Betrachtung des Rettungsdienstes – vom Notruf bis zur Übergabe und darüber hinaus – lassen sich tragfähige Konzepte entwickeln, die eine langfristige Stabilität des Systems gewährleisten.